Am Morgen nach der Axtattacke in einem Regionalzug bei Würzburg kam ein Kollege mit dem Satz ins Büro: "Jetzt hab ich doch ein komisches Gefühl, hier die Treppen hochzugehen..."
Die Axt im Kopf

Am Morgen nach der Axtattacke in einem Regionalzug bei Würzburg kam ein Kollege mit dem Satz ins Büro: »Jetzt hab ich doch ein komisches Gefühl, hier die Treppen hochzugehen.« Dazu muss man wissen, dass die Neue Szene seit ein paar Monaten neue Nachbarn hat im Bürogebäude in der Stadtjägerstraße: das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Seitdem stehen bei uns Securitys in der Toreinfahrt und im Treppenhaus trifft man naturgemäß permanent auf Geflüchtete. Die Begegnungen sind auch sehr, nun ja, flüchtig, es bleibt also der eigenen Phantasie überlassen, woher die Menschen kommen und was sie durchgemacht haben könnten. Bis der Tag des Axtanschlags die Vorstellungskraft in eine ganz andere Richtung lenkte. Wie beim Kollegen mit dem unguten Gefühl: »Man weiß ja nie...«
Am selben Abend radelte ich auf dem Heimweg an einem Mann vorbei, der eine seltsame Weste trug, irgendwie gepolstert und olivgrün. Heilige Scheiße, dachte ich, jetzt gehen die Leute schon mit schutzsicheren Westen vor die Türe! Erst beim Überholen konnte ich erkennen, was der Spaziergänger vor der Brust trug: ein Baby. Die »seltsame Weste« war nichts anderes als ein modernes Tragetuch, ein umgedrehter Rucksack. Und so geht es weiter. Kurz darauf am Rathausplatz: Zwei Männer gehen hintereinander, der eine hat die Arme hinterm Kopf verschränkt. Mich erinnert die Szene, nicht zuletzt dank Erdogan, sofort an eine Verhaftung.
Dass der Terror keinen Bogen um Deutschland macht, dürfte niemanden überraschen, aber was er in unseren Köpfen anrichten kann, darauf waren wir vermutlich nicht vorbereitet. Auf so etwas kann man sich auch nur bedingt vorbereiten. Umso wichtiger, jetzt damit professionell umzugehen. Professionell? Genau. Das ist schließlich einer der vielen Vorteile, die wir hier genießen: Es haben sich auch mit diesem Thema schon etliche schlaue Leute beschäftigt.
Nur leider wird es mit ein paar (oder hundert) Bibliotheksbesuchen nicht getan sein. Der italienische Philosoph und Medienwissenschaftler Franco Berardi gab wenige Tage nach Würzburg der SZ ein Interview, in dem er im Prinzip gar nicht mehr unterscheidet zwischen Einheimischen und Flüchtlingen: »Wir haben die Aufmerksamkeit für unsere Mitmenschen verlernt, weil wir uns nur noch als Konkurrenten im Kampf ums Überleben sehen.«
Ein Satz, so banal wie wahr. Wer zum Beispiel den vor der Schließung stehenden Obi-Baumarkt an der Berliner Allee zum Zeitpunkt der Mitarbeiterproteste besucht hat, weiß, was ich meine: »Schon blöd, das mit den Arbeitsplätzen, aber alles kein Grund, sich die Schnäppchen entgehen zu lassen!«, schien die verbreitete Meinung zu sein. Oder, um es mit George Harrison zu sagen: »All through the day: I, me, mine«.
Der Erfolg von Politikern, die für diese Maxime stehen (in erster Linie beim eigenen Geldbeutel und dem der Familie), ist da nur logisch. Und hinterlässt eine weitere Erschütterung: Wie kann man Trump, Erdogan, Hofer, Petry, Le Pen, Farage, Orban - diese vermaledeite Liste, die Tag für Tag länger wird - wählen? Und wie reagiert man darauf? Auch hier trifft’s das »Establishement« einigermaßen unvorbereitet: Wie soll man sich denn auch auf diese Unvernunft (um es verharmlosend auszudrücken) vernünftig vorbereiten? Noch dazu, da das Treiben immer groteskere Züge annimmt?
Der Philosoph Franco Berardi drückt es so aus: »Das Böse zu verstehen ist der einzige Weg aus der Hölle.« Wobei der religiöse Aspekt seiner Meinung nach eher eine untergeordnete Rolle spielt: »Das hat weniger mit Religion zu tun als mit den Folgen des globalen Kapitalismus«, lautet seine Analyse vieler Attentäter, von denen die meisten einfach nur mal ein Held sein wollten.
Ein siebzehnjähriger »Held« mit Axt und Messer im Regionalzug! Man ahnt es: Wir werden noch viele Tage mit ungutem Gefühl ertragen müssen.
Dann kam München. Reutlingen. Ansbach.