Marcus Ertle ist wieder unterwegs, auf der Suche nach interessanten Menschen und Gesprächen. Diesmal hat er einen Kollegen getroffen: den Fotografen Fabian S., der letztens in New York die Straßen durchstreift hat...
Warten auf... ...den perfekten Moment
Augsburg im Herbst, auch wenn es erst Mitte September ist. Schön eigentlich, ein Windchen geht, die Blätter fallen. Ob daran Parasiten oder die Jahreszeit schuld sind? Wer kann das schon sagen. Am Milchberg sitzt ein Mann alleine in einem Cafe und liest, guter Ansatz für ein Gespräch. Ein Gespräch mit Fabian S. übers Fotografieren, New York und die den perfekten Moment.
Neue Szene: Mittagspause?
Fabian: Nein, ich bin da, weil ich hier meine Fotoausstellung habe.
Hat die einen Namen?
Sie heißt „Eight million stories“, also acht Millionen Geschichten, angelehnt an die über acht Millionen Einwohner von New York. Das ist das zentrale Thema, die Geschichten und Persönlichkeiten der Menschen.
Wie lange warst du in New York?
Ich war zehn Tage dort und habe nichts anderes gemacht als fotografiert und mir beiläufig die Stadt erschlossen. Ich bin morgens um sieben aufgestanden, raus aus meiner Bude und war bis nachts mit der Kamera zu Fuß unterwegs. So habe ich mir Viertel um Viertel erschlossen und mich orientiert, das funktioniert bei mir immer übers Laufen, ich bin so gut wie nie U-Bahn gefahren. Im Prinzip bewegst du dich wie im Krieg mit der Waffe im Anschlag, der Moment entscheidet und wenn du ihn verpasst, ist er für immer weg.
Dieses Bild von der Waffe im Anschlag ist nicht ganz unzutreffend, du bist als Fotograf auf der Jagd.
Da gibt es unterschiedliche Konzepte, ein Fotograf hat vom Jäger der Bilder gesprochen, ein anderer vom Angler der Bilder. Der eine jagt wie besessen durch die urbane Umwelt und der andere ist eher der Flaneur und Müßiggänger, der sich an einer günstigen Stelle rumtreibt, wo vielleicht die Lichtverhältnisse gut sind, und wartet, was passiert.
Bist du Flaneur oder Jäger?
Ich würde sagen, eine Kombination, ich kann das nicht klar trennen. Es ist schon so, dass manchmal die Rahmenbedingungen für ein Foto stimmen und ich dann an diesem Ort warte, dass etwas passiert, was eine Geschichte erzählt, eine Dynamik entstehen lässt.
Auf der Lauer.
Immer, insofern passt das mit dem Jäger. Der Angler kann sich mal zurücklehnen und ein Buch lesen, aber wenn der Haken zuckt, muss er auch da sein, da geht es um den Bruchteil einer Sekunde.
Wie riecht New York morgens?
Also dort, wo ich war, nicht gut. Ich war in Manhattan in der Nähe des Madison Square Gardens in einem billigen Appartement und vor meinem Fenster befand sich eine Filmproduktionsfirma, die morgens um vier ihr Equipment ein- und ausgeladen und irgendwelche Prominenten begrüßt hat, an Vin Diesel kann ich mich erinnern. Morgens zwischen drei und fünf kam die Müllabfuhr, die haben dann das Fenster runtergekurbelt gegen die Tonnen getreten, den Müll des alten Tages entleert und sind wieder abgerauscht. An Schlaf war da also kaum zu denken, deswegen konnte ich relativ leicht frühmorgens aufstehen und fotografieren.
Ist der Mythos New York so stark, dass man sich dann sagt: Geil, ich rieche original New Yorker Müll?
Nein, das dachte ich mir ehrlich gesagt nicht, dieser Mythos an sich hat mich gar nicht so berührt, mich haben die Straßen, die Häuserschluchten, die Wolkenkratzer interessiert. Wie sich das Licht bricht, was für Stimmungen entstehen. Die Stadt hat natürlich dieses Melting-Pot-Image, dieses Miteinander oder Gegeneinander von Menschen unterschiedlicher Kulturen, das hat mich auch sehr interessiert. Man hat als Besucher in Manhattan den Eindruck, dass das Miteinander der verschiedensten Menschen harmonisch funktioniert, aber man hat dabei nicht unbedingt im Kopf, dass die meisten Menschen am Abend dann mit der Metro heim in ihre Art “Ghetto“ fahren und dort unter sich sind.
Spürt man eine höhere Schlagzahl in der Stadt, eine Art Grundbrummen?
In Manhattan auf jeden Fall, immer, Tag oder Nacht macht da wenig Unterschied. Eine höhere Schlagzahl auch, mehr Hektik, mehr Lärm, mehr Verkehr. Die Menschen sind zwar gehetzter, aber sie sind deswegen nicht unfreundlicher oder unentspannter, sie sind sehr locker und hilfsbereit, das ist eher ungewöhnlich für so eine Metropole. Wobei das natürlich oft auch eine Art Maskerade sein kann, jeder ist lässig und grüßt dich bei Starbucks, aber was er wirklich über dich denkt, weißt du nicht. Allerdings wäre mir diese Art von Freundlichkeit hier manchmal ganz angenehm.
Was interessiert dich fotografisch an Städten?
Im Prinzip interessieren mich Gebäude und Objekte überhaupt nicht, mich interessiert auch keine Inszenierung, mich interessieren Momente, die authentisch sind, die nicht manipuliert sind. Ich versuche deswegen auch, nicht aufzufallen beim Fotografieren, weil es darum geht, Menschen in Momenten zu fotografieren, in denen sie sich unbeobachtet fühlen.
Wie schafft man das?
Indem man keine hektischen Bewegungen macht, sich nicht auffällig kleidet, in Bewegung bleibt, nicht zu lange an einem Ort stehen bleibt und dadurch auffällt und indem man im richtigen Moment die Eier in der Hose hat, sich in die richtige Position fürs Foto zu bringen, auch wenn man Gefahr läuft, erkannt zu werden.
Mal beim Fotografieren entdeckt worden?
Sehr selten, die meisten denken, man fotografiert etwas anderes, es denkt nicht jeder, dass gerade er ein Motiv sein könnte.
Welche Eigenschaften darf ein Fotograf nicht haben?
Er darf nicht menschenscheu sein, nicht lauffaul, nicht vollkommen technikfremd.
Eitel?
Das kommt auf den Bereich an. In der Modefotografie kommt das sicher stark vor, in meinem Bereich aber nicht, es geht um das Bild und um den Weg, das Bild zu bekommen.
Ich stell es mir gerade vor: New York, sieben Uhr morgens, Müllgeruch in der Nase, du stehst auf, gehst aus dem Haus, trittst auf die Straße. Wie geht es dann weiter?
Ich schalte die Kamera ein, betrachte die Wetterlage...
Stativ dabei?
...kein Stativ, sehr kleine Kamera, ist unauffälliger und leichter. Dann geht’s los, erst mal paar Bilder schießen, um in den Flow zu kommen, ein Gespür für die Kamera zu bekommen, fürs Klicken.
Treiben lassen oder mit Ziel?
Eine Mischung, meistens ein Grobziel vor Augen, aber ohne Stadtplan unterwegs, einfach los, im Zweifel Leute fragen, schauen, wo man ankommt, der Weg ist das Ziel. Man erwartet manchmal von bestimmten Gegenden überhaupt nichts und ist dann total überrascht, was sich da für fotografische Schätze und Begegnungen ergeben.
Was für eine Begegnung zum Beispiel?
Ich war in Greenwich Village, frühmorgens, kleine Gasse. Ich habe nichts Bestimmtes gesucht, dann kam mir ein Mann mit zwei großen, dicken Hunden an der Leine entgegen, ich dachte zumindest, es wären Hunde, aber als er näher kam, habe ich gemerkt, dass es zwei große Hausschweine waren. Er hat mich dann darum gebeten, ihm zu helfen, seine beiden Schweine in den Kofferraum zu verfrachten, weil er als Vertreter eines schottischen Whiskey-Unternehmens, das „Whistle Pig“ heißt, zu Werbeaufnahmen nach Long Island musste. Solche Begegnungen hast du, wenn man sich einfach treiben lässt.
Man hört manchmal die Aussage, dass man den Menschen, die man fotografiert, etwas wegnimmt.
(überlegt) Dass man ihnen ein bisschen etwas von ihrer Unschuld klaut?
Vielleicht.
Natürlich ist das eine Grenzüberschreitung, weil man in die Intimsphäre der Person eindringt, weil man sich das Erfassen des unschuldigen Ausdrucks als Ziel setzt, und dafür muss man nahe an den Menschen ran. Das merkt der Betrachter später auch, man merkt, ob ein Foto mit einem 700mm-Zoomobjektiv vom Cafe aus gemacht wurde, oder ob man zwei Meter neben dem Mensch stand und seinen Atem gespürt hat, das sieht man einem Bild an. Es geht mir darum, Erinnerungen festzuhalten, die Welt anzuhalten.
Gibt es Situationen, in denen dein Instinkt als Fotograf sagt: Ja, mach das Bild, aber dein Gefühl als Mensch sagt, nein, das geht nicht?
Ja, und das ist immer ein innerer Kampf. Ich versuche die Menschen eigentlich immer mit einem wohlwollenden Blick zu fotografieren, so dass ich das Gefühl habe, es gibt keinen Grund, mir deswegen böse zu sein. Ich entwürdige niemanden, das ist meine Grenze. Bei einem Kriegsfotografen ist das natürlich ganz anders, aber ich habe eben die Möglichkeit, zu selektieren, und manchmal ist es auch besser, ein Bild nicht zu machen. Wenn man mit einem Unfall konfrontiert ist, auch wenn es sicher ein ungewöhnliches Foto gäbe, das kommt für mich nicht infrage, in dem Moment zählt ein anderer Instinkt.
Weinende Menschen?
Da ist für mich noch keine Grenze erreicht, denn Weinen ist für mich eine ganz normale Gefühlsregung, die niemanden entwürdigt.
Aber entblößt.
Um Entblößung in einem gewissen Rahmen geht es auch, anders ist Emotionalität nicht übertragbar und das ist eben das größte Ziel: emotionale Fotos zu schießen. Schnappschüsse, die keine Emotion zeigen, die den Betrachter nicht anziehen, sind für die Tonne, die braucht die Welt nicht, davon gibt’s genug. Es geht darum, Bilder zu schaffen, zu denen Menschen eine gefühlsmäßige Verbindung aufbauen.
Gibt es von deinen New Yorker Fotos eines, das dich besonders berührt?
Das emotionalste Foto war für mich an einer Kreuzung, Fifth Avenue, 42ste Straße, als ein Schulbus an einer Ampel gehalten hat. Es hat geregnet und im Bus saßen kleine Kinder, die in den Sekunden an der Ampel den Passanten, die draußen im Regen standen, zugewinkt haben und ihre Nasen gegen die Fenster drückten.
Danke für das Gespräch.